Schuld und Sühne

Diese Woche ist nicht viel passiert. Ein wenig Arbeit (Autos reinigen und Holz spalten), die üblichen Gebete, das übliche Essen, das übliche Training.

Das einzig Erwähnenswerte ist der Donnerstag, an welchem „Gaecheonjeol“, der Tag der Staatsgründung gefeiert wurde, die auf den mythischen König im Jahr 2.333 v. Chr. zurückgeht und amüsanter Weise auf den gleichen Tag fällt wie die Deutsche Einheit.

Dann wird es mal wieder Zeit für eine Buchbesprechung.

Eine gute Freundin schenkte mir einst „Die Brüder Karamasow“. Da Dostojewski mit seiner Geschichte über 1.400 Seiten füllte, trauerte ich mich erst nach einigen Monaten an das Werk und las den Roman in den letzten Monaten meines Traineeships. Die Lektüre war ein wenig verwirrend (und das nicht nur wegen den seltsamen russischen Namensformen), die Dialoge mäandern ewig vor sich hin, die Handlung scheint kaum voranzukommen, die Geschichte ist vollgestopft mit Charakteren, deren Funktion ich nicht einsehen konnte und dennoch war ich von dem Buch gefesselt. Manche Textpassagen gefielen mir so sehr, dass ich sie mehrfach las und irgendwann wird bei Dostojewski ersichtlich, dass die Charaktere eine bestimmte Funktion und Aussagekraft haben, ohne dabei auf plumpe Metaphern degradiert zu werden.

Mit diesem Vorwissen traute ich mich selbstbewusster an „Schuld und Sühne“ heran. Mit 800 Seiten nicht ganz so lange, ist die Handlung ähnlich kurz gestrickt wie bei den Brüdern, doch mit der Erfahrung konnte ich mich umso mehr auf die Dialoge konzentrieren.

Der Student Raskolnikow lebt in bettelärmlichen Verhältnissen, kann sein Studium nicht fortsetzen und ist dazu noch verschuldet. Eine geniale Idee scheint seine Probleme zu lösen. Eine alte Pfandleiherin ermorden, ihr Geld stehlen und damit sein Leben finanzieren. Gesagt getan, wird die Alte mit einem Beil erschlagen, aufgrund des Zeitdrucks nur ein wenig Schmuck entwendet und geflohen. Der perfekte Mord, zwar ohne den erwünschten Gewinn, aber ohne Beweise für Raskolnikows Schuld. Und dennoch scheint der Student nicht zufrieden. In stetiger Anspannung erträgt er die Anwesenheit seiner Freunde und Familie nicht mehr. Allein wie unter Leuten quält ihn eine Einsamkeit.

Nun ist Dostojewski nicht so plump, um dies mit einem schlechten Gewissen zu erklären. Mord ist verboten, das steht schon in der Bibel und im Strafgesetzbuch, doch Raskolnikow hat sich eine andere Moral ersonnen. „Und ich weiß jetzt, […] dass, wer kräftig und stark an Geist und Verstand, dass der auch der Beherrscher der anderen ist! Wer viel wagt, der ist nach ihrer Anschauung auch im Recht. Wer der Masse dreist entgegentritt, der gilt ihnen als Gesetzgeber, und wer mehr als alle anderen wagt, der hat auch das allergrößte Recht! So ist das bisher gewesen, und so wird das immer sein! Man muss blind sein, um das nicht einzusehen!“

Und wer will ihm widersprechen? Wer glaubt denn, dass sich die Mächtigen nur an Wahrheit und Recht halten. Welcher Eroberer hat sich von dem Leichenberg abhalten lassen, den er produziert. Und für manch großen Mann mag dies prächtig funktioniert haben, sein Name ist ewig in der Geschichte eingebrannt, doch damit gehen Kosten einher.

„Ich habe einen schlechten Charakter, das sehe ich wohl. […] Aber weshalb lieben mich denn meine Mutter und meine Schwester so, wenn ich es nicht verdiene? Ach, hätte ich doch allein dagestanden, und hätte niemand mich geliebt, und hätte ich selbst nie jemand geliebt! Dann wäre das alles nicht geschehen!“

Wenn die Mitmenschen nur Mittel oder Hindernisse sind, ist der Mensch dann überhaupt noch in der Lage zu lieben? Kann ich einen Fremden heimtückisch für den eigenen Gewinn ermorden, um mein Leben und das meiner Nächsten zu verbessern. Mord aus Liebe? Dostojewski gibt dem eine Absage.

Solche Schuld lässt sich nur auf eine Weise sühnen.

„Aber aus diesen blassen, kranken Gesichtern strahlt schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, einer völligen Wiedergeburt zu neuem Leben. Die Liebe war es, die diese Wiedergeburt gewirkt hatte; dem Herzen des einen entsprudelten unerschöpfliche Quellen des Lebens für das Herz des anderen.“

Jetzt kommt man nicht alle Tage darauf, eine alte Frau zu erschlagen. Doch der dahinterliegende Gedanke ist wohl recht alltäglich. Mehr habe ich verdient, mehr Geld, mehr Ruhm, mehr Aufmerksamkeit und mehr Liebe und wenn mir das nicht gegeben wird, ist die Welt Schuld und ich darf alles tun, dieses Unrecht zu ändern.

Solche Gedanken kommen mir oft morgens. Müde stehe ich in der Kirche, hungrig und erschöpft vom gestrigen Training kann ich mich in solch einem narzisstischen Wahn verlieren. Die vielen Ausflüge, von denen ich hier berichte, mögen alle ganz nett sein, doch dafür bin ich nicht ins Kloster gegangen. Mit dem stetig gleichen Tagesablauf kann ich mich selbst betrachten, die ewig gleichen Gedankengänge beobachten und mich selbst besser verstehen lernen.

Doch kann sich nicht jeder für ein Jahr aus seinem Alltag verabschieden. Was kann noch gegen solche Gedanken getan werden? Schlichtweg alles, solange etwas getan wird. Raskolnikow Umfeld kritisiert im Buch häufig, dass er nur in seinem Zimmer herumliegt und nichts tut. Nicht studiert, keine Unterrichtsstunden gibt, um Geld zu verdienen, seinen Freund Rasumichin nicht besucht. Herumliegen und über das eigene Unglück grübeln, bringt keine Heilung. Um den deutschen Bodybuilder Markus Rühl zu zitieren: „Ich hab gar keine Zeit für Depressionen. Ich glaub wenn man diese Zeit net hat so viel zu grübeln, dann kommt man auch gar keine Depression rein.

Wenn man also genug des Grübelns hat, mag vieles helfen. Arbeit, Sport oder mit ein paar Mönchen Kouign-Amann essen und Schwarzer-Sesam-Latte-macchiato trinken. Und schon sieht die Welt besser aus.


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