Oliver, wo bist du?

„Die „Klosterzeit“ kann an maximal drei Orten verbracht werden.“ So steht es auf der Webseite, doch in meiner unbändigen Gier verzehrte es mich nach mehr. Als ob ich mich von menschlichen Regeln und Gesetzen einschränken lasse, vier sollen es sein und nicht weniger. Daher schreibe ich diesen Text gerade aus dem Priorat Tabgha am See Genezareth, doch dazu später mehr.

Zuerst einmal ging es wieder nach Tel Aviv. Eine Volontärin in Jerusalem erfuhr von einem Vortrag der Supernova-Festival-Überlebenden Ofri Reiner. Mit ungenauen Erwartungen entschied ich mich daran teilzunehmen und fuhr am Sonntag mit ihr mit. Dort traf ich auf die quirlige junge Frau, die man auf den ersten Blick als Mädchen von nebenan beschreiben würde. Zu Beginn ihrer Rede schien sie gut gelaunt, erklärte uns allerdings gleich, dass sie den Vortrag zwar schon fast zwei Dutzendmal gehalten hat, aber dennoch emotionale Reaktionen zeigen wird. So geschah es immer wieder, dass sie stockte, um auf den Boden zu sehen und auch ihre Stimme leicht brechen konnte.

 In aller Ausführlichkeit kann ich ihre Erzählung nicht wiederholen, nur so viel: zweimal wurde auf sie geschossen und nur mit Glück und ihrer Militärerfahrung konnte sie den Kugeln entkommen. Dies ließ sie nach eigener Aussage an Wunder glauben. Während sie 20 Kilometer durch die pralle Sonne wandern musste, um die sichere Zivilisation zu erreichen, wurde ihr Bruder und aktiver Soldat an der Grenze zu Gaza von Hamas-Terroristen überrannt und erschossen, dies nahm sie im Vortrag sichtlich mehr mit als ihre eigenen Erlebnisse.

Also alles furchtbar und das Leben ist grausam. Wäre Ofri Reiner bei diesen Themen geblieben, ich hätte ihren Vortrag wohl kaum erwähnt. Im Englischen gibt es den Begriff des „Misery Porn“, die Lust am Leid der Anderen. Die eigenen Zweifel und scheinbaren Probleme zu hinterfragen im Angesicht viel größeren Übels mag nützlich sein und hilft, die Schönheit des eigenen Lebens zu erkennen, doch reicht mir das nicht mehr aus. Ich wünsche mir den Anblick von wahrhafter Größe,  um mich mit dieser zu messen und an dem Ideal zu wachsen.

Daher war ich ganz mitgerissen, als Ofri Reiner von Post-Traumatic Growth (Posttraumatisches Wachstum) sprach. Durch ein traumatisches Erlebnis können die „Opfer“ Stärke und einen tieferen Lebenssinn gewinnen. Um es mit Seneca zu sagen: „Alle Widerwärtigkeiten sind in seinen Augen nichts als Kraftproben. Wer aber, wenn er überhaupt ein Mann und für Ehre empfänglich ist, sehnte sich nicht nach würdiger Anstrengung und nach Erfüllung gefahrvoller Aufgaben?“.

Ein ganz schön pathetischer Einstieg. Na ja, inzwischen mögt ihr euch daran gewöhnt haben…

Eigentlich geht es hier doch um Tabgha. Die Dormitio-Abtei verfügt über ein Priorat, eine Außenstelle, wenn man so will, am See Genezareth. Damit Johannes und ich auch diesen Ort entdecken können und da der Prior Joseph Unterstützung bei der Räumung eines baufälligen Hauses benötigt, werde ich mich hier für zwei Wochen aufhalten.


Auf großer Fläche, als Begegnungsstätte gebaut und mit großem Pilgerhaus (oder eher Hotel) ausgestattet, ist Tabgha ein paradiesischer Ort. Es war die richtige Entscheidung nach dem ländlichen Einsiedeln das Stadtkloster in Jerusalem aufzusuchen, doch genauso genieße ich die ruhigen Wochen in der Natur.


Dabei muss ich auch zugeben, dass ich mir hier etwas mehr Freiheiten herausnehme und statt an allen Gebetszeiten teilzunehmen, meine Stille im warmen See oder dem kühlen Naturquellen-Pool suche. Bei den Wetterbedingungen benötige ich auch einen kurzen Mittagsschlaf. Im Vergleich zu Jerusalem sind es nur ein paar Grad mehr, dafür herrscht vor Ort eine hohe Luftfeuchtigkeit, die mich schnell zum Schwitzen bringt und ich bei der Arbeit mit halbnasser Kleidung umherlaufe. Da mag mir vergeben werden, dass ich meinem Körper etwas mehr Ruhe ermögliche.

Das Kloster ist ideal auf diese Bedingungen eingestellt. Die Kirche habe ich bisher nur einmal betreten. Die schwüle Luft lässt kaum Gebetsstimmung aufkommen, daher finden die Zeiten in dem gekühlten Oratorium statt.


Auch einen Ausflug konnten wir bereits unternehmen, in die nahe gelegene Stadt Magdala. Johannes kennt dort ein Mitglied der Legionäre Christi, die dort einen großartigen Hotelkomplex besitzen. Neben der Ausgrabungsstätte einer Synagoge, die zu Zeiten Christi entstanden ist, gibt es nahe dem Strand eine schmuckvolle Kirche, in welcher wir Gottesdienst feierten und an einer Anbetung teilnahmen.


Also alles schön und paradiesisch hier? Als wir in Tabgha ankamen und Google Maps öffneten, wurden wir in Beirut verortet, 6 Stunden Autofahrt von Tabgha entfernt. Durch die Nähe zum Libanon gibt es hier häufiger Raketenangriffe, sodass die GPS-Ortung regelmäßig durch das israelische Militär gestört wird. Doch zwei Gründe sorgen für meine Sicherheit. Zum einen ist die israelische Raketenabwehr hervorragend und zum anderen verfügt die Hisbollah über gute Raketensysteme. Und wie hilft mir Letzteres? Wenn die Hisbollah auf etwas zielen, dann treffen sie auch und glücklicherweise interessiert sie ein benediktinisches Kloster mit Pilgerbetrieb relativ wenig, da sind die umliegenden Städte interessantere Ziele.

Jetzt ist mein Blogeintrag schon viel länger geworden, als ich dies eigentlich geplant hatte. Ein paar Worte möchte ich noch über den Titel dieser Woche verlieren. Da der Prior von Tabgha uns auch geistliche Nahrung schenken wollte, trafen Johannes und ich mit Pater Efrem zusammen, um über Fragen in der Bibel zu sprechen. Noch nie hatte ich mir über dieses Thema Gedanken gemacht, daher war ich erstaunt, wie viele mir bekannt waren und wie bedeutungsvoll diese sind. Die erste Frage, die Gott stellt, lautet „Wo bist du?“, da sich Adam nach dem Verspeisen der Frucht vor ihm versteckt. Adam erkennt, dass er nackt und verletzlich ist und dies erfüllt ihn mit Angst und Scham. Seit dem Gespräch habe ich mir die Frage gestellt, wo ich mich befinde. Ich bin nun an einem Punkt, an dem ich mit großer Überzeugung erneut Seneca zitieren kann. „Du fragst, sagt er, was ich gewonnen habe? Ich habe begonnen, mein Freund zu sein. Er hat viel gewonnen: Er wird niemals allein sein.“

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