Sonne und Stein

Letzte Woche beschwerte ich mich noch über die fehlende Sinnlichkeit der katholischen Gottesdienste und heute muss ich dies bereits revidieren.

Die Orgel ist das christliche Musikinstrument. Zwar existierte sie schon vor der Geburt Christi, doch durch ihre Größe und Kostspieligkeit entwickelte sie sich in Europa zu einem Privileg der Kirchen. Wie wachbereite Soldaten stehen die Pfeifen in Reih und Glied um ihren Dienst zu erfüllen und geben der Messe genau die Sinnlichkeit, die ich mir wünsche.

„Wenn ich dies spiele, treibe ich selbst dem Ungläubigsten Tränen in die Augen“, erklärte uns der Organist der evangelischen Kirche als er die verschiedenen Tasten, Register und Pedale präsentierte. In fast zwei Stunden wurde uns die Funktionsweise und der Aufbau gezeigt und spielen durfte ich natürlich auch einmal. Wobei ich eigentlich nur auf ein Pedal trat und nacheinander Register zog. Auch dieses einfache Spiel kann entzücken, doch natürlich vermag der Organist ganz andere Töne entlocken.




Davon konnten wir uns, der Volontär Johannes und ich, am Samstag überzeugen, als wir seinem Spiel in der Himmelfahrtskirche Auguste Viktoria lauschten. Das Ambiente der ebenfalls von Kaiser Wilhelm II. erbaute Kirche in Verbindung mit den schwebenden Klängen lässt einen das Selbst vergessen und ganz im Augenblick aufgehen, ohne Ego, ohne Welt, nur Emotion und geistig‘ Tanz. So wünsche ich mir einen Gottesdienst…



Um in fernen Landen Hof zu halten, verfügt die Auguste für den Kaiser natürlich auch über einen Thronraum, der in patriotischer Überzeugung mit stilisierten Reichsadlern gefüllt ist. Ein größeres Exemplar blickt bereits an den Besuchern vorbei, scheinbar in ewiger Erwartung auf die Rückkehr seines geliebten Herrn.


Doch nicht nur die Musik kann einen Gottesdienst stimulieren, auch ein malerischer Ausblick ist dazu in der Lage. Pater Simeon führte uns vor dem Orgelspiel in die Dominus flevit (ignorieren wir einmal die traurige Übersetzung „Der Herr weinte“) auf dem Ölberg. Der Weg dorthin ist gepflastert mit jüdischen Gräbern. Dies ist natürlich kein Zufall, sondern religiös bedingt. Den Texten nach wird der Messias auf dem Ölberg erscheinen und mit den auferstandenen Toten durch das Goldene Tor in die Altstadt einziehen. Um ganz vorne dabei zu sein, sind die Grabesplätze dementsprechend begehrt.


Doch kommen wir zur Kirche selbst. Mitten in einem schön gepflegten Garten steht das kleine Gotteshaus mit einem weiten Blick auf den Tempelberg und dem golden-strahlenden Felsendom. Hier ist der Ruf zum Gottesdienst schon viel angenehmer als in einer dunklen Steinkirche.


Der Rückweg führte Johannes und mich noch in den Garten Getsemani, welcher Olivenbäume beheimatet, die bereits zu Zeiten Jesu gestanden haben. Zu diesem Andenken wurde dort die „Kirche aller Nationen“ erbaut, welche sich ihren Namen durch die vielseitige Finanzierung verdiente. Vor dem Altar befindet sich ein Stein, auch welchem Jesu vor seiner Gefangennahme gebetet haben soll. Der harte Stein ist bereits butterweich, da nicht nur Christus Hände darüberstrichen.


Doch der Sinnlichkeit noch nicht genug, fand ich diese Woche endlich wieder Zeit mich meiner selbst zu widmen, oder besser meinem Körper. Bei meiner Ankunft in Jerusalem las ich „Sonne und Stahl“, einem Plädoyer der Körperkultur von dem Japaner Mishima. Nachdem der Literat sich lange nur seinem geistigen Schaffen hingegeben hat, erkannte er schließlich, dass der Körper eine ganz eigene Sprache besitzt und diese mit dem Geist korreliert. „Verweichlichte Emotionen, so erschien es mir, korrespondierten mit schwachen Muskeln, Sentimentalität mit einem schlaffen Bauch, Überempfindlichkeit mit einer hypersensiblen, blassen Haut. Folglich entsprechen pralle Muskeln einem kühnen Kampfgeist, ein straffer Bauch besonnenem Urteilsvermögen und robuste Haut einem starken Charakter.“

Wenn ich meine persönliche Entwicklung seit Einsiedeln betrachte, muss ich dem Mann Recht geben, doch tragischerweise befindet sich in der Dormitio weder Hantelbank noch ein erreichbares Fitnessstudio in der Nähe. Aus Stahl wurde somit Stein und ich setze Körperkult nun mit gebräunten Muskeln fort.

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